Man sieht Lea mit ihrem Blindenführhund Arzu

Plüschige Hilfsmittel

Lea mit Führhündin ArzuLea mit Führhündin Arzu

Hin und wieder werde ich gefragt, wieso ich einen Blindenführhund habe. Nur knapp 2% aller blinden Menschen in Deutschland haben ein solches lebendiges Hilfsmittel, die Frage ist also berechtigt. Sehr lange fühlte auch ich mich mit dem Langstock mobil und selbstständig genug. In Kombination mit meinem bis vor einigen Jahren noch nutzbaren Sehrest von ca. 2% kam ich mit dem Stock sehr gut zurecht und wagte mich auf diese Weise auch in unbekannte Umgebungen.

Als Kind in den 80er Jahren hatte ich mit Hunden überwiegend negative Erfahrungen gemacht. Ein Mädchen aus meiner Grundschulklasse war schwer durch einen Hundebiss verletzt worden und mir hatte wenige Jahre später der Hund einer Freundin das T-Shirt zerrissen. Hunde waren mir daher ziemlich suspekt. Ich war mit Katzen aufgewachsen, verstand ihre Art der Kommunikation und ihr Wesen war mir viel sympathischer als das, was ich für hündisch hielt. Katzen waren für mich der Inbegriff von Selbstbestimmtheit und Eigenständigkeit, während ich die Unterwürfigkeit und Abhängigkeit der meisten Hunde eher als unangenehm empfand. Alles, was ich über die Kommunikation zwischen Mensch und Hund zu wissen glaubte, hatte mit sinnlosen Regeln, dringend zu verhindernder Dominanz und Befehlen im Kasernenton zu tun. All das stieß mich zutiefst ab. Es gab also keinerlei Gründe, über einen Führhund als Hilfsmittel nachzudenken. An ein Tier, das ich nicht verstand, mit dem ich für mein Empfinden nicht angemessen kommunizieren konnte und dem ich nicht vertraute, hätte ich niemals mein Leben gehängt.

Das änderte sich erst gegen Ende meines Studiums. Ich war fast 30, hatte ein paar Jahre zuvor die Diagnose MS bekommen und durch einen Schub vorübergehend Teile meines Gleichgewichtssinns verloren. Zusätzlich hatte mein Sehen sich durch einen beidseitigen grauen Star auf ein Minimum verschlechtert und ich traute mich schlicht und ergreifend nicht mehr alleine vor die Tür. Der Langstock war mir keine Hilfe, weil ich kein Gefühl mehr dafür hatte, ob ich geradeaus oder im Zickzack lief. Die Angst, aus Versehen auf die Straße zu stolpern oder vollkommen die Orientierung zu verlieren, war zu groß. In dieser Zeit – ich bin mir recht sicher, dass ich mitten in einer undiagnostizierten Depression steckte – begann ich über einen Führhund nachzudenken. Ich brauchte etwas, dass mir eine Richtung gab und meinen angeknacksten Gleichgewichts- und räumlichen Orientierungssinn ausglich. All das versprach ich mir von einem Hilfsmittel, das quasi mitdenkt und mich aktiv führt, anstatt nur meinen Tastsinn durch den Langstock bis auf den Boden auszudehnen.

Seit Beginn meines Studiums hatte ich kein Tier mehr gehabt und mir fehlte ein flauschiges Wesen in meinem Leben. Mein Damaliger Mann war allerdings gegen Katzen allergisch und wollte eigentlich gar kein Tier. Ich konnte ihn nur überzeugen, wenn es sich eben nicht um ein reines Haustier sondern zugleich um ein Hilfsmittel handelte, das mir aus der Patsche half. Um mich zu informieren und ihm die Vorbehalte zu nehmen, las ich viel über Hunde, stellte Fragen auf Onlineplattformen und tauschte mich mit Führhundhalter*innen aus. Ich trat einem Assistenzhundeverein bei, nahm an einem Infoseminar teil und hatte Kontakt zu diversen Führhundschulen.

Bei Alledem wurde mir klar, dass meine eigenen Vorbehalte gegen Hunde großteils Unsinn gewesen waren. Dominanz war ein überholtes Konzept, mensch stellte selbstverständlich nur sinnvolle Regeln auf und zu deren Durchsetzung brauchte mensch keineswegs militärisch gebellte Kommandos. Ein freundlicher aber bestimmter Umgang mit viel Bestärkung und ohne verängstigende und verunsichernde Strafen kristallisierte sich als der einzig gangbare Weg heraus. Damit konnte ich wunderbar leben, denn es entsprach mir viel mehr als alles, was ich mir zuvor unter Hundehaltung vorgestellt hatte. Das einzig Dumme war, dass gefühlte 99% der Führhundschulen so nicht arbeiteten. Bei Vielen gab es Zwingerhaltung, also keinen Familienanschluss für die Hunde, es gab Strafen und Lernen durch Schreck und Angst, und ich las unzählige Berichte über unzureichend ausgebildete Hunde, die ihre blinden Halter*innen mehr in Gefahr brachten als ihnen das Leben zu erleichtern.

Nach einer langen Odyssee ließ ich mich auf das Experiment einer Selbstausbildung ein. Ich nahm eine wunderschöne weiße Schäferhündin namens Biene bei mir auf und versuchte, sie gemeinsam mit einer vertrauenswürdigen und vernünftig arbeitenden Trainerin auszubilden. Leider zeigte sich recht schnell, dass Biene charakterlich alles andere als die geborene Führhündin war. Sie war sehr ängstlich, reagierte mit Panik auf fremde Hunde und viele Alltagssituationen. Ich war in der Praxis des Hundetrainings komplett unerfahren, auch wenn ich mir Monate lang Theoriewissen angelesen hatte. Biene war sehr distanziert und wir kommunizierten oft einfach aneinander vorbei. Dennoch lernte ich in dem halben Jahr, das ich mit Biene verbrachte, unglaublich viel. Ich hatte mich schon einige Monate vorher von meinem Mann getrennt und lebte alleine. Selbst diese völlig schreckhafte und unkalkulierbare Hündin gab mir aber so viel Sicherheit und Selbstvertrauen, dass ich wieder alleine raus ging. Ich muste ja, denn Biene musste gassi gehen, wir mussten trainieren und von irgendetwas leben. Mein äußerer Schweinehund hatte erfolgreich den inneren überwunden, wie ich es mir seit meiner Entscheidung für einen Hund gewünscht hatte – und das ganz ohne einen funktionierenden Hilfsmittelaspekt.

Ich lernte in diesem halben Jahr sehr viel über mich, meine Fähigkeiten und Motive. Genauso viel lernte ich über Hunde, ihre Kommunikation, ihre Art zu lernen und meine Möglichkeiten, sie zu motivieren. Dennoch gab ich Biene wieder in ihr früheres Zuhause im tiefsten Brandenburg ab. Der Job als Führhund hätte sie Zeit ihres Lebens überfordert und gestresst. Im Dauerstress kann niemand zuverlässig arbeiten, so dass ich mich auch nie wirklich auf sie hätte verlassen können. Das wollte ich uns Beiden nicht antun.

Die Entscheidung wurde mir dadurch erleichtert, dass unsere Trainerin in ihrer Führhundschule gerade eine zuckersüße und hellwache Labradorhündin ausbildete. Kurz vor Abschluss des Trainings stellte sich heraus, dass die blinde Person, für die sie eigentlich bestimmt war, sie doch nicht bekommen konnte. Die Trainerin hatte also einen fertig ausgebildeten Hund und keinen Menschen dazu. Da sie sehr genau um meine Situation mit Biene wusste – war sie doch an ihrer Ausbildung beteiligt – schlug sie mir vor, die entstandene Lücke zu füllen und ihre Hündin zu übernehmen. Ich kannte die Hündin schon lange, weil sie ja immer in der Führhundschule war, wenn ich dort mit Biene auftauchte – ich hatte sie sogar schon während meines ersten Treffens mit der Trainerin kennengelernt, bevor Biene bei mir eingezogen war. Damals hatte ich die kleine, schwarze Knalltüte schon als meinen Traumhund ausgemacht. Umso glücklicher war ich, dass dieser Traumhund nun tatsächlich mein Hund wurde.

Im Herbst 2014 absolvierten Arzu und ich unsere Einarbeitung als Führgespann. Auch mit ihr dauerte das Zusammenwachsen als Team eine Weile, weil ich in solchen Dingen einfach sehr langsam und schwierig zu sein scheine. Anfangs gab es manchmal Missverständnisse, es passierten Fehler und ich werfe mir vor, dass ich auch in diesem zweiten Anlauf längst nicht alles richtig gemacht habe. Dennoch passte es viel besser als mit Biene und wir wurden innerhalb eines knappen Jahres unzertrennlich. Arzu arbeitet gut und zuverlässig, weil sie Spaß an ihrer Arbeit hat und ihre Aufgaben mit sehr viel Lob und Belohnung gelernt hat. Wenn ich mit Arzu im Führgeschirr unterwegs bin, belohne und lobe ich nach wie vor sehr viel. Das hebt die Stimmung, steigert die Motivation und ist oft einfach lustig. Wenn ich an jedem korrekt angezeigten Ampelmast eine Party feiere und jede Straßenüberquerung zu einem kleinen Rennen wird, bei dem ich Arzu anfeuere und vollquatsche, wirkt das auf fremde Passant*innen vermutlich etwas albern, aber es macht richtig Laune und sorgt dafür, dass ich mich mit Arzu einfach sicher fühle. Im ständigen Dialog mit dem Hund zu sein, ist nicht nur unschätzbar schön sondern garantiert auch, dass die Aufmerksamkeit bei der Führarbeit bleibt und ein Hund sich nicht so leicht ablenken lässt.

Dennoch vertraue ich Arzu nicht zu 100%. Das tue ich grundsätzlich nicht, egal, ob bei Hunden, Menschen oder grünen Affen. Jedes Lebewesen kann Fehler machen, abgelenkt sein oder sich unwohl fühlen. Manche Verhaltensweisen und Impulse eines Hundes kann ich als Mensch weder vorhersehen noch verstehen, weil Hunde auf einer ganz anderen Ebene ticken und Dinge wahrnehmen als ich. Insofern verurteile ich nicht sofort jedes für mich unverständliche oder unlogische Verhalten meines Hundes als gravierenden Fehler. Vielleicht habe ich selbst unklar kommuniziert und Arzu weiß nicht, was ich will. Vielleicht sieht sie aus ihrer Perspektive eine Tür, einen Mülleimer oder eine Treppe einfach nicht und kann das gewünschte Ziel daher auch nicht anzeigen. Vielleicht ist ausgerechnet in der Richtung, in die ich gehen will, ihr ärgster Feind unterwegs oder ein für ihre Nase ganz widerlicher Geruch schreckt sie ab. Dann weigert sie sich verständlicherweise, weiterzugehen. Wenn sie etwas seltsames tut, versuche ich also erstmal, ihre Beweggründe zu verstehen und damit zu arbeiten. Meistens fahre ich damit sehr gut und komme dennoch an mein Ziel – vielleicht bloß 10 Minuten später als geplant, weil ich eine spontane Trainings-, Forschungs- oder Beruhigungseinheit einlegen muss.

Für mich ist Arzu aber viel mehr als ein Hilfsmittel. Sie ist eine Mitbewohnerin, Sozialpartnerin und manchmal fast wie ein Kind. Dass wir inzwischen mit zwei Menschen und zwei Hunden zu viert sind, hat sie noch zusätzlich aufblühen lassen. Solange wir zu zweit waren, war unser Zusammenleben enger als es jetzt ist, aber die Mehrhundehaltung ist für alle Beteiligten eine echte Bereicherung. Das Leben hat so eine neue, viel lebendigere Qualität und Arzus Arbeit hat darunter nicht gelitten.

Natürlich hat jeder Mensch andere Erwartungen an einen Assistenzhund und möglicherweise auch unterschiedliche Vorstellungen von Nähe, Zusammenleben und Kommunikation mit einem Tier. Für mich ist mit dem schwarzen Plüschspaßvogel genau das perfekte Tierchen vom Himmel gefallen. Auf dem Weg bis hier her ist mir allerdings klar geworden, wie viel im Führhundewesen und ganz allgemein im Assistenzhundewesen im Argen liegt. Hunde werden mit kontraproduktiven Methoden aus dem letzten Jahrhundert ausgebildet und arbeiten dementsprechend ungern und unzuverlässig. Es gibt keine Definition oder Prüfung für Menschen, die Assistenzhunde ausbilden – jede Person kann sich das Label “Assistenzhundetrainer*in” auf die Stirn kleben, niemand überprüft tiefgreifendere Kenntnisse oder Ausbildungsmethoden. Die Finanzierung von Blindenführhunden ist über die Krankenkassen eigentlich rechtlich fest verankert, dennoch gibt es oft Kassen, die sich quer stellen. Und alle übrigen Assistenzhunde werden schlicht nicht bezahlt – wer beispielsweise einen Signalhund, einen Autismusbegleithund oder einen Rollstuhlbegleithund braucht, darf selber sehen, wie sie oder er das Geld für die teure Ausbildung aufbringt. Zu guterletzt sind Assistenzhunde und ihre Rechte in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt und Menschen mit solchen Hunden werden immer wieder mit mittelbarer Diskriminierung konfrontiert. Aus Unwissenheit werden Assistenzhunde im Dienst von vielen Menschen genauso behandelt wie Familienhunde, was zur Folge hat, dass Menschen mit ihren notwendigen Hilfsmitten aus Geschäften, Cafés, medizinischen Einrichtungen, Verkehrsmitteln oder Veranstaltungsorten rausgeworfen werden. Es gibt noch viel zu tun und ich schätze mich umso glücklicher, dass ich bislang nur auf so wenige Probleme gestoßen bin.
(geschrieben von Lea)

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