Tipps an Eltern behinderter Kinder

Es ist klassisch und wahrscheinlich den meisten Menschen aus eigener Erfahrung bekannt. Eltern tun sich schwer damit, ihre Kinder loszulassen und sich ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr in ihr Leben einzumischen. Irgendwie bleibt ein Kind aus Sicht der Eltern immer Kind, selbst dann, wenn es erwachsen ist und vielleicht längst eigene Kinder hat.

Zu diesem Phänomen gibt es aber noch eine Steigerung. Je abhängiger ein Kind ist und je mehr Unterstützung es braucht, desto schwerer fällt es den Eltern, es irgendwann dennoch als erwachsene, vollwertige Person zu behandeln. Die Abhängigkeit und der Unterstützungsbedarf des Kindes zementieren seine unmündige Rolle in der familiären Hierarchie.

Ja, ich schreibe z.B. von Kindern, die mit einer Behinderung oder einer chronischen Krankheit geboren werden oder etwas Derartiges im Kindesalter erwerben. Natürlich ist es wünschenswert, dass Eltern ihr behindertes Kind nach Kräften fördern und unterstützen. Es ist wichtig, dass sie ihm die Fähigkeiten vermitteln, um seine Behinderung einerseits so gut wie möglich zu kompensieren und andererseits als Teil von sich selbst zu akzeptieren. Eltern, die ein Kind mit Behinderung in Abhängigkeit halten, weil sie ihm nichts beibringen sondern ihm alles abnehmen und vormachen, schaden ihrem Kind, indem sie ihm die Fähigkeiten für ein selbstständiges Leben vorenthalten. Die Gründe sind dabei meist gut gemeint aber zu kurz gedacht: Das Kind ist aus Sicht der Eltern so bemitleidenswert und bedürftig, außerdem geht es viel schneller, wenn die Eltern Dinge erledigen als wenn sie ihrem Kind “umständlich” beibringen, wie es sich selbst helfen kann.

Genauso wichtig wie die Befähigung zur Selbstständigkeit ist aber auch das Loslassen, damit das Kind, wenn es irgendwann kein Kind mehr ist, seine Fähigkeiten selbstbestimmt ausleben kann. Das fällt Eltern behinderter Kinder aber ungleich schwerer als Eltern im Allgemeinen. Je enger das Verhältnis zwischen Eltern und Kind ist, desto schwerer ist dieser Abnabelungsprozess. Und das ist ganz logisch: Das längst erwachsene Kind mit Behinderung, das zu seinen Eltern ein gutes Verhältnis hat, wird die Hilfe und Unterstützung der Eltern gern auch noch im Erwachsenenalter nutzen. Unterstützung und Hilfe braucht jeder Mensch mit Behinderung dann und wann, also warum nicht auf Personen zurückgreifen, die einen gut kennen und zu denen mensch Vertrauen hat?

Aus Sicht des “Kindes” spielt die Eltern-Kind-Hierarchie vielleicht längst keine Rolle mehr und es beansprucht die Hilfe der Eltern nur aus Gewohnheit oder aufgrund des Vertrauensverhältnisses. Für die Eltern bleibt durch diese Abhängigkeitssituation aber unterschwellig noch eine ganz andere Hierarchie bestehen: Sie bleiben, meist unhinterfragt, in der Rolle der organisierenden, überwachenden und kontrollierenden Erwachsenen gegenüber dem unorganisierten, unmündigen Kind. Wie organisiert oder mündig das Kind dabei tatsächlich wäre, wenn sie es ließen, ist völlig egal. Das Verhalten der Eltern ändert sich nicht und das “Kind” beginnt irgendwann, diesen fremdbestimmenden Paternalismus als lästig zu empfinden.

Mir selbst fällt dieses Phänomen immer wieder auf, wenn ich feststelle, dass meine Mutter sich z.B. meine Arzttermine notiert. Ich erzähle ihr beiläufig, dass ich irgendwann wegen irgendwas zu irgendeiner Ärztin oder irgendeinem Arzt muss. Dann kommt Wochen später der Tag des Termins und mit großer Wahrscheinlichkeit finde ich eine Mail oder einen Anrufbeantwortertext vor, in der bzw. dem sie sich sofort erkundigt, wie denn der Termin gelaufen ist. Es kam sogar schon vor, dass sie mich am Vortag irgendeines Termins an diesen Termin erinnerte, als hätte ich selbst keinen Kalender. Dazu ist vielleicht als Hintergrundinformation nicht uninteressant, dass ich schon seit meinem 20. Lebensjahr, also seit über 15 Jahren, nicht mehr mit meinen Eltern zusammen wohne, dass sie von meinen Angelegenheiten also schon eine ganze Weile nicht mehr unmittelbar betroffen sind.

Als ich vor ein paar Jahren in einer Nacht-und-Nebel-Aktion quer durch Deutschland reiste, um einen damals guten Freund in einer tiefen Krise zu unterstützen, brach beinahe Panik aus. Meine Schwester, die weitaus öfter und weiter durch die Gegend reist, im Gegensatz zu mir aber keine Behinderung hat, wurde bei ihren Unternehmungen nie so misstrauisch und ängstlich beäugt. Offenbar trauen unsere Eltern ihr, obwohl sie jünger ist, wesentlich mehr Selbstständigkeit, Selbstbestimmung und Selbstorganisation zu als mir. Wenn ich eine Reise unternahm, war in der Vergangenheit immer große Sorge und Bedenkenträgerei angesagt, es wurden Szenarien aufgemacht, was alles schiefgehen und in Katastrophen münden könnte, was dann letztendlich auch mein eigenes Denken zu bestimmen begann. Meine Schwester hatte so gesehen wesentlich mehr Freiheit, weil sie nur mit ihren eigenen Bedenken zu kämpfen hatte und unsere Eltern ihr nicht noch zusätzliche Ängste einredeten.

Das alles beeinflusst natürlich das Selbstbild, das Selbstvertrauen und die Unternehmungslust. Wenn mensch das Gefühl hat, nicht für voll genommen zu werden und in den Augen der Anderen ständig in Gefahr zu schweben, traut mensch sich selbstverständlich weniger zu als wenn die eigenen Pläne und Ideen als ganz normal hingenommen oder sogar unterstützt werden. Eltern, die ihr Kind zu Selbstbewusstsein und Mut erziehen und befähigen wollen, müssen es so früh wie möglich Selbstwirksamkeit und Vertrauen spüren lassen. Nur jemand, dem von anderen Menschen Vertrauen entgegengebracht wird, kann auch seinerseits sich selbst und Anderen vertrauen. Wer ständig fremdbestimmt wird und wessen eigene Impulse und Vorhaben übermäßig hinterfragt, zerlegt und mit Zweifeln und Ängsten zugedeckt werden, wird sich zu einem von Grund auf unsicheren und zweifelnden Menschen entwickeln.

Ich will diesen Beitrag nun nicht zu einer Anklageschrift verkommen lassen. Meine Eltern haben Manches falsch, aber viel, viel mehr richtig gemacht. Ich beschreibe hier nur zu einem kleinen Teil eigene Erfahrungen. Vieles habe ich aus der Beobachtung anderer Menschen mit und ohne Behinderungen abgeleitet. Behinderung ist auch definitiv nicht der einzige Faktor, der Eltern das Loslassen erschwert. Es ist aber ein Faktor, der diese Problematik mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit auslöst und auf dessen Auswirkungen alle Eltern – besonders eben die mit behinderten Kindern – sehr aufmerksam achten sollten.

(geschrieben von Lea)

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