Stefan, der sehbehinderte Richter

Alles, was Recht ist (oder die Freude an der Unabhängigkeit)

Von Stefan Niemann

Stefan NiemannStefan Niemann

Montag, 2. April 2001, 8:00 Uhr:
Ich sitze – bekleidet mit einem dunklen Anzug, weißem Hemd und einer roten Designerkrawatte – in der Straßenbahn und bin auf dem Weg ins Landgericht. Ich bin freudig erregt. Heute ist der Tag der Tage, mein Start ins Berufsleben. Und es ist nicht irgendein Beruf, nein, ich werde als Richter im Landgericht arbeiten. Im Gericht angekommen, bringt mich ein Mitarbeiter der Verwaltung zu einem Sitzungssaal. Dort läuft gerade eine öffentliche Sitzung in einem Zivilrechtsstreit. Die Vorsitzende unterbricht die Sitzung, alle Beteiligten erheben sich, und ich muss meinen Diensteid leisten. Ich bin jetzt doch ziemlich nervös. Aufgrund einer hochgradigen Sehbehinderung bin ich nicht in der Lage, den Eid abzulesen. Deshalb spricht ihn die Vorsitzende Satz für Satz vor, ich spreche ihn nach. Im Anschluss daran wird die Sitzung fortgesetzt, ich gehe in mein Dienstzimmer.

Dort angekommen, ist meine anfängliche Euphorie verflogen, erste Selbstzweifel beschleichen mich, war es wirklich eine so gute Idee, sich auf eine Richterstelle zu bewerben? Werde ich den Anforderungen überhaupt gerecht werden können? In meinem Büro liegt ein rund 90 cm hoher Stapel mit Akten. Offenbar wird von mir erwartet, dass ich irgendetwas Zielführendes mit diesen Akten machen soll, nur was und vor allem wie?

Mit den Verantwortlichen des Landgerichts hatte ich ca. zwei Monate zuvor besprochen, dass und welche Hilfsmittel ich aufgrund meiner hochgradigen Sehbehinderung benötigen würde, um mir die Akten zugänglich zu machen. Dazu gehörten zuvörderst ein PC mit einem großen Bildschirm, einer Vergrößerungssoftware und vor allem einem Screenreader, also eine Software, die den Bildschirminhalt vorlesen kann, des weiteren ein Scanner, um so mittels einer OCR-Software die Anwaltsschriftsätze einscannen und dann über die Sprachausgabe des PC vorlesen lassen zu können. Außerdem ein sog. Bildschirmlesegerät, mit dessen Hilfe man Texte über eine Kamera und einen Bildschirm extrem stark vergrößern kann. Das Landgericht hatte beim Landeswohlfahrtsverband auch umgehend einen Antrag auf Kostenübernahme gestellt, dieser Antrag ist allerdings noch nicht beschieden, und so sitze ich jetzt in meinem Büro und kann lediglich auf mein privates Bildschirmlesegerät zurückgreifen, das ich – um überhaupt etwas lesen zu können – in mein Dienstzimmer habe bringen lassen. Weil sich mein Sehvermögen allerdings in den letzten drei Jahren nochmals erheblich verschlechtert hat, ist das nur bedingt eine Hilfe, und die Brailleschrift (Blindenschrift) habe ich zwar im letzten Jahr gelernt, ich bin aber viel zu langsam, als dass ich damit beruflich sinnvoll arbeiten könnte. Auch die versprochene Arbeitsassistenz ist noch nicht da, die Anträge beim LWV laufen, immerhin soll sie in zwei Wochen anfangen.

So nehme ich jetzt also die oberste Akte vom Stapel, sie besteht aus vier Bänden, die mit einer Art Gürtel zusammengehalten werden. Ich lege den ersten Band unter das Lesegerät und beginne auf Seite 1. Es handelt sich um eine Klage des Inhabers eines abgebrannten Gewerbebetriebes, der 7,6 Mio. Euro von seiner Versicherung fordert. Meine Hände werden feucht, Panik steigt in mir auf. Wieso soll ich (gleich als erstes) über solche Streitwerte entscheiden, ich habe doch keine Ahnung! Eigentlich gilt am Landgericht das sog. Kammerprinzip, sprich, in der Regel entscheiden immer drei Richter über die jeweiligen Fälle, und nur im Ausnahmefall wird der Fall einem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Blöderweise haben die beiden Richterkollegen meiner Kammer dieses Prinzip de facto umgekehrt, sprich, grundsätzlich entscheidet der Einzelrichter, und nur im Ausnahmefall, also bei Fällen, die besonders kompliziert oder umfangreich sind, entscheidet die Kammer mit drei Richtern. Und bei meiner Vorstellung hat mir der Vorsitzende der Kammer gleich noch mit auf den Weg gegeben, dass es solche Fälle praktisch nicht gäbe und deshalb alles durch den Einzelrichter entschieden würde, keiner meiner Vorgänger sei jemals mit dem Ansinnen an ihn herangetreten, einen Fall zu dritt zu entscheiden. Ich klappe die Akte wieder zu, da fällt mir ein auf der Vorderseite angebrachter Zettel auf. Dort steht “Anlagen in Kiste auf Geschäftsstelle”. Ich gehe in meine Geschäftsstelle und frage nach. Man verweist auf sechs Umzugskartons, die in einer Ecke gestapelt sind und in denen sich Dutzende Leitz-Ordner mit Plänen, Rechnungen, Schriftverkehr etc. befinden.

Ich könnte einfach nur schreien. Dass ich den Fall ca. drei Jahre später ganz locker entscheiden werde und dass gegen mein Urteil noch nicht einmal Berufung eingelegt werden wird, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich beschließe, jetzt erst mal durchs Haus zu gehen und mich bei den richterlichen Kollegen vorzustellen. Ich gehe von Zimmer zu Zimmer, die Namen der Kollegen kann ich mir bald schon nicht mehr merken, bald habe ich auch den Überblick verloren, bei wem ich schon überall war. Die Gänge systematisch abzuarbeiten hilft auch nicht weiter, denn teilweise sind die Büros verschlossen. Eigentlich hätte ich ja erwartet, dass meine Sehbehinderung hier eine Rolle spielen wird, aber bis auf die jüngeren Kollegen stellt keiner Nachfragen. Das liegt vielleicht daran, dass es am Landgericht seit Jahren einen vollblinden Richter gibt.

Nach ca. eineinhalb Stunden – ich habe nur einen Bruchteil der Kollegen angetroffen – kehre ich in mein Büro zurück. Ich nehme mir die zweitoberste Akte und beginne zu lesen. Diesmal handelt es sich um eine Erbstreitigkeit, die Klägerin macht gegen ihre Geschwister Pflichtteilsansprüche geltend und erhebt deshalb eine sog. Stufenklage. “Was um Himmels willen ist eine Stufenklage?”, frage ich mich. Im Studium war das ganz sicher nicht dran und im Referendariat irgendwie auch nur am Rande. Ich lese und lese und habe innerlich schon beschlossen, den Dienst zu quittieren, da klopft es an der Tür. Eine junge Frau steckt den Kopf zur Tür herein und meint: “Ich bin Steffi, ich bin seit drei Monaten hier Richterin, die jungen Richter gehen um 12.00 Uhr immer zusammen zum Mittagessen in die Kantine, magst Du mitkommen?” Das lasse ich mir nicht zweimal sagen, und so gehe ich – zusammen mit sieben Männern und Frauen, die alle ungefähr in meinem Alter sind – zum Essen. Dabei erfahre ich, dass sie alle zwischen drei Monaten und zwei Jahren als Richter arbeiten und dass sie alle – mal mehr und mal weniger – von denselben Zweifeln geplagt werden, ob sie für den Job überhaupt geeignet sind und dass sie alle das Gefühl haben, dass ihnen die Kenntnisse, die sie jetzt bräuchten, im Studium und im Referendariat nicht vermittelt worden sind. Hier ist auch meine Sehbehinderung das erste Mal wirklich Thema. Die Kollegen wollen wissen, wie ich denn das Studium und das Referendariat bewältigt habe und wie ich die Akten bearbeite. Ich berichte von meinem Dilemma, dass zur Zeit weder die Assistenzkraft noch die erforderlichen technischen Hilfsmittel da sind. Alle sind super-nett und bieten ihre Hilfe an. Ich könne jederzeit kommen, wenn ich Fragen hätte, das sei ganz normal. In den kommenden Monaten – aber das weiß ich da noch nicht – werde ich von diesem Angebot reichlich Gebrauch machen.

Nach dem Mittagessen gehe ich wieder in mein Büro und lese die Erbschaftsakte weiter. Da klopft es erneut. In das Dienstzimmer kommt Corinna, eine der jungen Frauen, mit der ich gerade beim Mittagessen war. Sie erklärt, sie sei die unmittelbare Vorgängerin auf meinem Dezernat gewesen und kenne alle Akten. Sie sei gekommen, um mir bei der Post zu helfen. Sie nimmt mir gegenüber an meinem Schreibtisch Platz. Dann erklärt sie mir, wie man so eine Akte bearbeitet, nämlich immer von hinten. Man schaut, was als letztes passiert ist, ob Schriftsätze eingegangen sind, die müsse man dann an die jeweils andere Partei weiterleiten, ob ein Termin angesetzt werden müsse, dann müsse man die Anwälte und Parteien entsprechend mittels einer Verfügung laden etc. Ich denke mir “Na toll!!! Das hätte dir der Ausbilder im Referendariat ja auch mal erklären können!” Corinna ist jedenfalls total nett, liest mir jeweils vor, um welche Akte es sich handelt, sagt mir, was jetzt sinnvollerweise gemacht werden muss, füllt die passenden Formulare aus, und ich unterschreibe diese eigentlich nur. Nach einer guten halben Stunde ist der dicke Aktenstapel von der Seite für den Posteingang auf die Seite für den Postausgang gewandert. Corinna schaut auf der Geschäftsstelle nach, ob da noch Akten sind, und bearbeitet auch diese mit mir zusammen. Nach rund einer Stunde ist alles geschafft, und sie sagt: “So! Genug gearbeitet für heute! Jetzt gehst Du heim! Und morgen Nachmittag komme ich, und wir machen wieder die Post, das machen wir so lange, bis Deine Technik und Deine Arbeitsassistenz da ist!”

So viel zu meinem ersten Arbeitstag, der jetzt fast 16 Jahre zurückliegt und den ich wohl nie vergessen werde. Aber wer bin ich, und wie kam es dazu? Mein Name ist Stefan Niemann, ich bin 45 Jahre alt, verheiratet, und ich habe zwei Kinder. Im Alter von neun Jahren wurde bei mir eine sog. Zapfen-Stäbchen-Dystrophie, eine fortschreitende degenerative Netzhauterkrankung, diagnostiziert. Diese führt innerhalb von ganz kurzer Zeit zu einem extremen Verlust der Sehkraft, bei mir auf unter zwei Prozent. Im weiteren Verlauf kommen immer größer werdende Gesichtsfeldausfälle, eine gesteigerte Blendempfindlichkeit etc. hinzu. Deshalb musste ich 1979, mitten in der vierten Klasse, die heimische Grundschule verlassen, und ich wechselte zunächst auf die Blinden- und Sehbehindertenschule in Nürnberg – Langwasser, später dann, im Jahr 1984, auf die Deutsche Blindenstudienanstalt in Marburg. Dort legte ich 1991 als eher durchschnittlicher Schüler das Abitur ab. Anschließend begann ich im Wintersemester 1991/1992 mit dem Studium der Rechtswissenschaften an der Philipps-Universität Marburg. Dabei war das Jurastudium für mich – anders als für etliche meiner Kommilitonen – nicht nur eine Verlegenheitslösung nach dem Motto “Ich weiß nicht so recht, was ich machen soll, deshalb fange ich mal mit Jura an”. Aber ich bin familiär auch etwas “vorbelastet”, denn einer meiner Onkel war als Rechtsanwalt, ein anderer als Richter am Oberlandesgericht tätig. Was die so bei Familientreffen berichteten, fand ich meistens sehr spannend, und so reifte in mir schon früh der Entschluss, später auch etwas mit Jura zu machen.

Meine Sehbehinderung stellte hier kein besonderes Hindernis dar, denn insbesondere im Fachbereich Rechtswissenschaften ist die Universität Marburg auf sehbehinderte und blinde Studierende eingestellt. Die Zusammenarbeit mit den Dozenten war vorbildlich, an die Wand projizierte Folien erhielt ich vorab als Ausdruck. Das einzige “Problem” war das Lesen der Gesetzestexte im Hörsaal selber, denn seinerzeit war die Technik lange nicht so weit wie heute. Die Dozenten lasen deshalb die fraglichen Paragraphen selber vor, oder sie forderten einzelne Kommilitonen auf vorzulesen. Im juristischen Seminar, der Bibliothek des Fachbereiches Rechtswissenschaften, gab es mehrere Räume, die sehbehinderte oder blinde Studierende mit Vorlesekräften nutzen konnten, um sich dort Aufsätze, Urteile etc. vorlesen lassen zu können, ohne dass die übrigen Besucher hierdurch gestört würden, und die Bibliothekare waren stets hilfsbereit, wenn es darum ging, Bücher zu finden. Auch standen mehrere Bildschirmlesegeräte zur Verfügung.

Das Jurastudium besteht – vereinfacht gesagt – aus drei sog. Kleinen und drei sog. Großen Scheinen, die jeweils in den Fächern Zivilrecht, Strafrecht und Öffentliches Recht abgelegt werden müssen. Um die nötigen Fachkenntnisse zu erwerben, hört man die verschiedensten Vorlesungen (im Zivilrecht z.B. Allgemeiner Teil, Allgemeines Schuldrecht, Besonderes Schuldrecht, Allgemeines Sachenrecht, Immobiliarsachenrecht, Familienrecht, Erbrecht, Gesellschaftsrecht, Insolvenzrecht etc.). Pro Semester werden zwei Hausarbeiten und drei Klausuren geschrieben, und um einen Schein zu bekommen, muss man eine Hausarbeit und eine Klausur bestehen. Das klingt erst mal einfach, ist es aber nicht immer. Denn die Durchfallquote liegt bei ca. 40 Prozent, und man weiß nie, aus welchem der vielen denkbaren Bereiche die Aufgabenstellung stammen wird, man muss also eigentlich alles wissen. Zu meiner Zeit stellten die drei Kleinen Scheine eine Zwischenprüfung dar, die bis spätestens nach dem sechsten Semester bestanden worden sein musste. Diese Zwischenprüfung wurde dann abgeschafft, zwischenzeitlich aber wieder eingeführt. Man schreibt erst die kleinen Scheine, dann die großen. Wenn man diese Scheine bestanden hat (und – je nach Bundesland – weitere Scheine in Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie, Rechtsphilosophie, Wirtschaft etc. abgelegt hat), kann man sich zum Ersten Staatsexamen anmelden. Abhängig davon, in welchem Bundesland man studiert, ist die Prüfung unterschiedlich. Zu meiner Zeit gab es in Hessen ein sog. Hausarbeitenexamen, sprich, das Examen bestand aus einer Hausarbeit, für die man sechs Wochen Zeit hatte, mehreren schriftlichen Klausuren und einer großen (fünfstündigen) mündlichen Prüfung. Zusätzlich war es seinerzeit so, dass die sehbehinderten und blinden Studierenden ihre Klausuren, die sie für die Scheine bestehen mussten, mit nach Hause nehmen und sie am nächsten Tag abgeben durften. Für das Staatsexamen galt dies allerdings nicht, hier mussten die Klausuren unter Aufsicht in der Uni geschrieben werden. Da ich in den Hausarbeiten (anfangs) stets schlecht abgeschnitten habe und mich in dem Wissen, die Klausuren zu Hause schreiben zu dürfen, nicht richtig zum Lernen motivieren konnte, entschloss ich mich dann zu einem Studienortwechsel und wechselte zum Wintersemester 1994/1995 an die Ruprecht-Karls-Universität nach Heidelberg, dies unter anderem auch deshalb, weil Baden-Württemberg ein Examen ohne Hausarbeit hatte und seinerzeit das einzige Bundesland war, in dem im Zweiten Juristischen Staatsexamen keine Kommentare erlaubt waren. Kommentare sind dicke, teilweise mehrere tausend Seiten starke Werke, in denen die Gesetze erklärt werden. Und da es diese – anders als heute – seinerzeit noch nicht in juristischen Datenbanken gab, hätte ich im Examen mit einer Vorlesekraft arbeiten müssen, die allerdings – das war die Vorgabe des Prüfungsamtes – über keine juristischen Vorkenntnisse verfügen durfte. Ohne gewisse Vorkenntnisse ist es allerdings sehr schwer bis unmöglich, in Kommentaren die passenden Stellen innerhalb angemessener Zeit zu finden. Deshalb hatte ich mir überlegt, dass meine Sehbehinderung weniger stark ins Gewicht fallen wird, wenn niemand ein Nachschlagewerk benutzen darf und alle alles auswendig wissen müssen. Die Universität in Heidelberg war auf Sehbehinderte oder Blinde nicht wirklich eingestellt. Im juristischen Seminar stand zwar ein Lesegerät, es bedurfte allerdings – insbesondere am Anfang – ganz erheblichen Eigenengagements, um den Dozenten die Problematik der Sehbehinderung verständlich zu machen und diese dazu zu bekommen, dass sie ihre Vorlesungen so gestalten, dass auch Blinde ihr folgen können. Meine Klausuren zu meinem letzten Großen Schein, dem Großen Öff-Recht-Schein, schrieb ich auf einer mechanischen Schreibmaschine im Dekanat. Das waren die ersten und einzigen Klausuren während meines Studiums, die ich unter echten Prüfungsbedingungen zu schreiben hatte. Allerdings weiß ich von Berichten späterer Studierender, dass heute auch in Marburg sämtliche Klausuren in der Uni geschrieben werden müssen.

Im Jahr 1997 trat ich dann zum Ersten Juristischen Staatsexamen an. Zuvor hatte ich – wie die meisten Jurastudenten – ein sog. Repetitorium besucht, das sind zumeist kostenpflichtige Kurse, in denen den Juristen der Stoff noch einmal komprimiert eingepaukt wird. Weil mir aufgrund der Sehbehinderung das Lesen schwerer fällt als anderen Studierenden, besuchte ich gleich drei Repetitorien, hörte also den Stoff mehrfach. Anlässlich der schriftlichen Prüfungen musste ich meinen privaten PC samt Drucker und das Bildschirmlesegerät ins Landgericht nach Heidelberg verbringen. Dort wurde der PC durch einen extra aus dem Justizministerium in Stuttgart angereisten IT-Spezialisten untersucht, um sicherzustellen, dass sich keine unerlaubten Hilfsmittel auf dem Rechner befinden, sämtliche Laufwerke und Anschlüsse, die nicht für den Drucker oder den Monitor benötigt wurden, wurden versiegelt. Damit keine Daten zu Betrugszwecken aufgespielt werden können. Das Erste Examen bestand aus sieben Klausuren, drei im Zivilrecht, zwei im Strafrecht und zwei im Öffentlichen Recht, und einer großen (fünfstündigen) mündlichen Prüfung.

Nach bestandenem Erstem Staatsexamen absolvierte ich ab Oktober 1997 das Referendariat. Hierbei handelt es sich um einen zweiten Ausbildungsabschnitt, der die praktische Arbeit umfasst. Man durchläuft verschiedene Stationen (am Zivilgericht, bei der Staatsanwaltschaft, in der Verwaltung, beim Rechtsanwalt). Sodann legt man die schriftlichen Prüfungen ab, das waren seinerzeit 8 Klausuren, davon vier im Zivilrecht, zwei im Strafrecht und zwei im Öffentlichen Recht. An den schriftlichen Teil des Examens schließt sich die sog. Wahlstation, bei der man sich eine Ausbildungsstelle wählen darf, an. Ich entschied mich seinerzeit für die größte Anwaltskanzlei in San Francisco und verbrachte drei Monate in einer der schönsten Städte der Welt, vertiefte mein Englisch und lernte ein völlig anderes Rechtssystem kennen. Die erforderlichen technischen Hilfsmittel, insbesondere ein Bildschirmlesegerät, mietete ich vor Ort bei einer Hilfsmittelfirma an. Außerdem profitierte ich von den Ressourcen der Kanzlei mit mehr als 250 Anwälten und tausenden Angestellten alleine am Standort San Francisco. Wieder zurück in Deutschland blieb dann noch die mündliche Prüfung, die ich am 2. November 1999 ablegte. Sie fand im Justizministerium in Stuttgart statt, und ich musste das Lesegerät von Heidelberg nach Stuttgart verbringen lassen. Damit war meine Ausbildung beendet.

Weil sich mein Sehvermögen insbesondere gegen Ende des Studiums und im Referendariat weiter verschlechterte und weil sich die Schwierigkeit, ohne größere technische Hilfsmittel Texte lesen zu können, im Referendariat als Problem herausgestellt hatte, entschloss ich mich sodann für eine sog. Blindentechnische Grundausbildung – wiederum an der Deutschen Blindenstudienanstalt in Marburg. Hierbei handelt es sich um einen ca. einjährigen Kurs, der Menschen, die ihr Augenlicht (weitgehend) verloren haben, diejenigen Fähigkeiten beibringen soll, die sie benötigen, um ihr Leben zukünftig möglichst eigenständig leben zu können. Hierzu gehört neben dem sog. Mobilitätstraining (Benutzung des Blindenstockes) und dem Training der sog. Lebenspraktischen Fertigkeiten (Kochen, Wäsche waschen, Bügeln etc.) vor allem das Erlernen der Blindenschrift sowie von Computerkenntnissen. Für mich waren nur die beiden letztgenannten Bereiche bedeutsam, und so wurde in meinem Fall gerade hierauf besonderes Augenmerk gelegt. Und ich steckte – quasi noch im Lernmodus des Staatsexamens – ganz erheblichen Aufwand in das Erlernen der Blindenschrift. Ich arbeitete mehr und härter als die übrigen Rehabilitanden meines Jahrgangs, musste am Ende aber feststellen, dass die Punktschrift nicht das Medium werden wird, mit dem ich (erfolgreich) arbeiten werde. Denn mit der Blindenschrift ist es wie mit dem Lernen eines Instruments, nur durch Üben, Üben und noch mehr Üben wird man besser und vor allem schneller. Es zeichnete sich ab, dass ich die Blindenschrift nur adäquat erlernen würde, wenn ich die im beruflichen Alltag zu lesenden Texte überwiegend in Blindenschrift lesen würde. Allerdings war auch klar, dass ich – würde ich dies tun- schlicht zu langsam sein würde, um der Fülle der zu bearbeitenden Texte Herr zu werden; ein Teufelskreis. Deshalb entschied ich mich dann dazu, nahezu ausschließlich akustisch zu arbeiten. Und so ließ ich mir täglich über die quäkende Stimme der Sprachausgabe des PC die Süddeutsche Zeitung vorlesen. Ich merkte sehr schnell, dass ich die Sprechgeschwindigkeit immer mehr steigern konnte und trotzdem alles mitbekam.

Und genauso, nämlich ausschließlich akustisch, arbeite ich jetzt die letzten 16 Jahre als Richter. Ich bearbeite ein sog. allgemeines Zivildezernat. Es geht meistens um Geld, also um Erbstreitigkeiten, die Folgen von Verkehrsunfällen, Vertragsstreitigkeiten, fehlerhaft erbrachte Werkleistungen (z.B. schlecht erstellte Bauwerke), aber auch um Unterlassung ehrverletzender Äußerungen oder um die Vornahme bestimmter Handlungen (z. B. Wiederanstellen der Heizung). Dabei muss der Streitwert mindestens 5.000,01 Euro betragen. Im Strafrecht darf ich nicht tätig sein, da Blinde oder hochgradig sehbehinderte Richter in den Tatsacheninstanzen (Amtsgericht oder Landgericht) nach einer (umstrittenen) Entscheidung des BGH nicht eingesetzt werden dürfen. Der Bundesgerichtshof begründet dies mit einer Vorschrift in der Strafprozessordnung, wonach sich das Gericht sein Urteil “unmittelbar aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung” bildet. Weil Blinde oder Sehbehinderte aber beispielsweise nicht selbst sehen können, ob Zeugen schwitzen oder rot werden oder weil sie sich Fotos beschreiben lassen müssten, sei dies dann nicht mehr “unmittelbar” im Sinne des Gesetzes.

Anders als im Studium besteht die richterliche Tätigkeit in der Praxis im Wesentlichen darin, den tatsächlichen Sachverhalt erst zu ermitteln. Dazu muss man die Akten lesen, um sodann zu prüfen, an welchen Punkten die Parteien streitig vortragen. Beispielsweise wird der Hergang eines Verkehrsunfalls unterschiedlich geschildert. Dann sind die angebotenen Beweise zu erheben, sprich, es sind Zeugen und Parteien zum Unfallhergang zu hören, ggf. sind Sachverständigengutachten (zu gefahrenen Geschwindigkeiten, Bremsweg etc.) einzuholen, wenn dem Gericht die fachlichen Kenntnisse in bestimmten Bereichen fehlen. Teilweise muss sich – beispielsweise in Nachbarschaftsstreitigkeiten – das Gericht auch selbst vor Ort einen Eindruck verschaffen. Der größte Teil der richterlichen Tätigkeit besteht im Lesen der Akten und in der rechtlichen Prüfung. In meinem Fall halte ich an einem Tag in der Woche meine Gerichtsverhandlungen ab, die übrige Zeit bereite ich die Verhandlungen vor bzw. schreibe die Urteile.

Vor dem Landgericht herrscht Anwaltszwang. Deshalb kommen praktisch alle Klagen und sonstigen Schriftsätze von Anwaltskanzleien und lassen sich hervorragend einscannen. Ich bin – trotz der Behinderung – so in der Lage, mir die Schreiben durch den PC vorlesen zu lassen. Meine Arbeitsassistenz scannt die Schreiben ein. Anlagen, wie Fotos oder Texte, die nicht eingescannt werden können, weil die Qualität zu schlecht ist, weil sie handschriftlich verfasst sind etc., liest sie mir vor, ich höre mir das dann an. Fotos und irgendwelche Pläne beschreibt sie mir. So bin ich in der Lage, mir vom gesamten Akteninhalt Kenntnis zu verschaffen. Die Gesetzestexte, juristische Fachaufsätze und vor allem Urteile sind – anders als zu Zeiten meines Studiums oder Referendariates – heute problemlos in juristischen Datenbanken wie Juris oder Beck Online zu finden. Insofern bin ich mit Hilfe der Assistenz und vor allem des sprechenden PCs in der Lage, die Akten zu bearbeiten. Die Sitzungsleitung der mündlichen Verhandlungen obliegt ebenfalls dem Richter. Ich nehme hier die Assistenz mit in die Sitzung. Falls dort durch Anwälte Schriftsätze vorgelegt werden bzw. falls einzelne Teile in der Akte gesucht werden müssen, beispielsweise Fotos, die Zeugen vorgelegt werden sollen, steht sie bereit, um zu helfen. Wenn – was in meiner Zeit erst vier Mal vorgekommen ist – Ortstermine durchzuführen sind, dann werde ich mit dem Dienstwagen durch den Fahrer des Landgerichts dort hingefahren. Ich habe auch hier stets die Assistentin mit, die mir das, was ich selbst nicht wahrnehmen kann, beschreibt.

Auf echte Hindernisse wegen der Sehbehinderung bin ich bislang nicht gestoßen. Abhängig vom Einzelfall ist der Aufwand, der betrieben werden muss, um mir die Akte zugänglich zu machen, mal kleiner und mal größer. Es geht aber immer irgendwie. Der einzig theoretisch denkbare Fall, bei dem die Sehbehinderung ein Problem bei der ordnungsgemäßen Ausübung der richterlichen Tätigkeit darstellen könnte, ist derjenige, bei dem es um die Beurteilung der Echtheit einer Urkunde bzw. den Vergleich zweier Unterschriften geht. Letzteres gehört zum ureigenen Aufgabenbereich eines Richters, Schriftsachverständige können hier nur eingeschränkt helfen, und aus technischen Gründen (wegen der in meinem Fall erforderlichen Vergrößerung) könnte jeweils nur eine der zu beurteilenden Unterschriften unter das Bildschirmlesegerät gelegt werden. Ein direkter Vergleich zweier Unterschriften könnte hier ggf. schwierig werden, dies unter anderem auch deshalb, weil sich das genaue Aussehen von Unterschriften nur schlecht beschreiben lässt und die Entscheidung, ob die zu vergleichenden Unterschriften “gleich” sind, damit de facto auf die Assistenzkraft verlagert würde. Entsprechendes ist in den 16 Jahren meiner richterlichen Tätigkeit allerdings noch nie vorgekommen. In einem solchen Fall müsste ich die Sache auf die Kammer zurückübertragen. Dann würde der Fall durch drei Richter entschieden, und zwei wären in der Lage die Unterschriften zu vergleichen.

Fazit:
Insbesondere (auch) für hochgradig Sehbehinderte oder Blinde ist der Beruf des Richters sehr gut ausübbar. Es ist ein anspruchsvoller Beruf, der insbesondere für Personen geeignet ist, die gerne mit Menschen umgehen (es müssen Parteien, Zeugen und Sachverständige vernommen werden), die die Abwechslung lieben (kein Fall ist wie der andere) und die – das ist wichtig – entscheidungsfreudig sind. Zauderer, also Menschen, die sich mit dem Treffen von Entscheidungen eher schwer tun, weil die getroffene Entscheidung sich ja später als falsch herausstellen könnte, werden im Richteramt eher nicht glücklich werden. Da es keine Präsenzpflicht gibt, man also kommen und gehen kann, wie man will, Hauptsache die Arbeit wird gemacht, gibt es wohl keine zweite Tätigkeit, bei der sich Beruf und Familie so gut miteinander vereinbaren lassen. Die jüngere Vergangenheit zeigt, dass deshalb insbesondere Frauen, die sowohl Familie haben als auch den erlernten Beruf ausüben wollen, das Richteramt anstreben. Auch wenn die Verdienstmöglichkeiten in deutsch-amerikanischen Großkanzleien oder der Industrie teilweise deutlich besser sind, hat mich persönlich stets die Unabhängigkeit des Richteramtes gereizt. Man ist nur dem Gesetz verpflichtet, und es gibt keinen Vorgesetzten, der einem Vorgaben macht, welchen Fall man wann und vor allem wie zu entscheiden hat.
(Geschrieben von Stefan Niemann)

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