“Augen zu und durch!” Oder “Immer schön die Augen offen halten”

Ich grüße zunächst einmal alle Leser/Innen und freue mich meine Geschichte mit Euch teilen zu können. Ich heiße übrigens Rasim Camoglu, bin 31 Jahre alt und seit meiner Geburt stark sehbehindert. Trotz der Sehbehinderung war ich bis zur einschließlich 8. Klasse an einer Regelschule und wechselte erst in der 9. Klasse auf eine Schule für Blinde und Sehbehinderte, um dann wieder in der 11. Klasse zurück auf eine Regelschule zu wechseln. Doch so konnte ich zumindest beide Schulsysteme kennenlernen. Nun ist zu sagen, dass ich wohl in der Schule zum ersten Mal richtig begriffen habe, dass ich eine Sehbehinderung habe, obwohl ich schon vorher vom Landesförderzentrum – Sehen aus Schleswig betreut wurde. Ja, wer aufgepasst hat, hat gemerkt, dass ich aus Schleswig-Holstein komme! Dass ich es gemerkt hab, lag wohl vor allem daran, dass alle Schüler/Innen einen ganz normalen Tisch hatten und ich einen Spezialtisch, den man verstellen konnte. Weiterhin konnten alle das lesen, was auf der Tafel stand. Ich sah nur viel grün und weiße Flecken. Dies war in der Grundschule nicht so schlimm. In der Realschule habe ich schon eher gemerkt, dass es schön wäre ohne ein Lesegerät die Tafel lesen zu können, denn so saß ich fast den gesamten Unterricht über ganz hinten im Klassenzimmer hinter meinem Lesegerät mit Tafelkamera. Ich war also während des Unterrichts fast immer alleine, da ich durch das Lesegerät bedingt keinen Sitznachbarn hatte. Viel besser hatte ich es auf dem Gymnasium. Dort bekam ich ein Notebook mit seperater Tafelkamera und konnte alles direkt auf meinem Tisch aufbauen und hatte so zumindest auf einer Seite jemanden, der neben mir sitzen konnte. Hinzu kommt, dass auf dem Gymnasium die Kurse in vielen verschiedenen Klassenzimmern stattfinden, so dass ein Notebook natürlich viel leichter zu transportieren ist, als ein gewaltiges Lesegerät.
Wenn ich an meine Zeit in der Regelschule zurückdenke, dann fallen mir in erster Linie auch die Nachteilsausgleiche ein, so bekam ich bei Klausuren z. B. weniger Aufgaben als andere. Nun kann das einen freuen, weil es beispielsweise in Mathe genau die Aufgaben sind, die man eh nicht konnte – das war natürlich super!! – aber es konnte einen auch belasten, denn man wurde stets anders als all die anderen behandelt. Schließlich möchte man sich selbst auch beweisen, dass man alles schaffen kann, was die restlichen Klassenkameraden/Innen schaffen.
Aber inzwischen sehe ich es so. Die Sehbehinderung ist ein Teil von mir. Sie betrifft aber nur mein Sehen, nicht jedoch meine Intelligenz, meine Sportlichkeit, meine Kreativität, meinen Mut usw. Aus diesem Grund sollte sie auch nicht meinen Wunsch nach Bildung, Sport, Mobilität usw. beeinträchtigen. D. h. ich selbst muss mir erst einmal klar machen, was die Nachteile sind, die rein von der Sehschwäche verursacht werden und nicht alle meine Schwächen darauf beziehen. Dann sollte ich mir meiner Stärken bewusst werden und versuchen mich von der Sehbehinderung nicht zurückschrecken zu lassen. Letztlich ist folgender Punkt noch wichtig, um meinen Denkkreis zu schließen. Wenn alle Menschen blind wären, wäre die Sehbehinderung noch nicht einmal eine Behinderung. Die ganze Welt wäre durch ihre blinde Gesellschaft auf die Bedürfnisse für Blinde zugeschnitten. Nun leben wir aber in der Welt der Sehenden und die Erfindungen und Errungenschaften sind in erster Linie für Menschen ohne Behinderung entwickelt wurden.
Wenn ich also nur die Nachteile nehme, die mir durch die Sehbehinderung entstehen, aber nicht entstünden, wenn alle Menschen sehbehindert wären, dann kann ich wenn diese Schwächen ausgeglichen werden, genau dasselbe erreichen, wie jeder andere auch. Und, dass mir das ermöglicht wird, ist doch etwas, wofür ich dankbar sein sollte. Denn alles was entwickelt wurde, wurde für meine “behinderungslosen” Klassenkameraden/Innen entwickelt und muss deshalb für mich abgeändert werden, beispielsweise gäbe es keine Schrift, die ich mit den Augen lesen müsste. Durch die Nachteilsausgleiche kann ich auch meine Stärken weiter ausbauen. Folglich würde ich auf die Nachteilsausgleiche nicht verzichten. Sie dienen nicht dazu mich zu separieren, sondern im Gegenteil dienen sie dazu, dass ich genau wie alle anderen am Leben teilnehmen kann. Als Kind bzw. Jugendlicher sah ich das noch ein wenig anders, aber mit dem Alter kommt die Weisheit!
Was man übrigens auch beachten sollte ist, dass man Zuhause beim Üben ja die gleichen Nachteile hat, wie in der Schule bei Klausuren, also dass man z. B. etwas langsamer liest, weil man mit dem Lesegerät nur kleine Ausschnitte hat und immer den Tisch hin und her bewegen muss, bzw. als Blinde/r in Braille lesen muss. Doch ich kann mich nicht daran erinnern, weniger Hausaufgaben bekommen zu haben, es kann jedoch sicher mal vorgekommen sein. Aber ganz sicher musste ich nicht weniger üben als alle anderen, sondern evtl. sogar länger, weil ich eben mehr Zeit brauchte mit dem Lesegerät – damit ist nicht gesagt, dass ich je länger geübt hätte :). Doch an alle Schüler/Innen, die dies lesen. Mit der Zeit gewöhnt man sich an das Lesen mit dem Lesegerät und man lernt viel schneller zu lesen. Beispielsweise habe ich im Praktikum in einer Anwaltskanzlei das Kompliment bekommen, dass ich sehr schnell arbeite. Und damit kommen wir zum nächsten Punkt, der meinen Denkkreis untermauert. Jeder Mensch hat irgend eine Schwäche, so sind manche weniger kreativ als andere oder haben ein schlechtes Verhältnis zu Zahlen. Jedoch wird all das nicht anerkannt und man erhält so z. B. keinen Nachteilsausgleich in Mathe. Die Sehbehinderung ist immerhin anerkannt und wenn man sich dann auf seine Stärken konzentriert und diese in Verbindung mit den Nachteilsausgleichen nutzt, kann man sicher auf dem Gebiet richtig, richtig gut werden.
Ein weiteres Thema in der Schule ist natürlich das Thema Mobbing oder Hänseln. Damit hatte ich kaum Probleme. Denn meine Klasse stand da fest hinter mir und so musste ich mir aus dem Klasseninneren niemals irgendwelche Hänseleien anhören. Mit einer Gruppe von Schülern aus der Parallelklasse sah das ein wenig anders aus. Die trauten sich das aber auch nur, wenn ich alleine war und das war sehr selten der Fall. Es hat mir jedoch geholfen selbstbewusster zu werden. Denn ich habe gelernt, die Sprüche einfach abprallen zu lassen. Inzwischen würde ich wohl Mitleid mit jemandem empfinden, der mich ärgert, da er noch nicht die geistige Reife erreicht hat, die andere schon längst haben. Deshalb bin ich heute den Kids auch nicht böse, die mich damals geärgert haben, denn es waren eben Kids. Heute würden sie das wohl auch als falsch ansehen und wenn nicht, dann schade um sie.
Was ich also in Richtung Inklusion den Zuständigen mit auf den Weg geben würde, lautet nicht nur eine Betreuung des/der Behinderten in der Klasse, sondern auch eine Betreuung der Parallelklassen bzw. der anderen Klassen z. B. einen Sporttag mit integrativen Sportarten, an welchem die Schüler/Innen mit Behinderung gegen andere Schüler/Innen antreten und sie dadurch in der Schule bekannter werden oder dass die Schüler/Innen mit Behinderung mal für eine Woche in eine andere Klasse kommen. Das überlasse ich den Fachleuten.
Ich persönlich bin damit wie folgt umgegangen. Ich habe mich gewehrt und wurde daher auch kaum gehänselt. Da meine ganze Klasse hinter mir stand, war es für die anderen eh schwer mich zu ärgern.
Nun könnte man als Leser natürlich sagen, dass ich ja immerhin nie körperlich angegriffen wurde. Doch auch das wurde ich in der Grundschule. Das war genau die Gruppe von Jungs, die mich hänselte und mir eines Tages während einer Regenpause auflauerte. Jung, wie ich war, lief ich weg, wurde aber mit einem doppelten Beinfeger auf den nassen Boden gefegt und lag dann da bis mich jemand aus der Oberstufe fand und mir hochhalf.
Nun, danach gab es keinen einzigen Angriff mehr. Entweder haben sie selbst begriffen, was sie da überhaupt getan haben oder die Lehrer oder wer auch immer hat ihnen so viel Angst gemacht, dass sie es sich nie mehr getraut haben. Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich mich an kein einziges Mal erinnern kann, an dem ich von dieser Gruppe nach diesem Ereignis geärgert wurde. Man muss es aber eben erst melden, denn wenn niemand darüber Bescheid weiß, wer soll einem dann helfen? Man sollte sich aber auch selbst verteidigen können. Daher empfehle ich schon eine Kampfkunst zu können. Nicht unbedingt um sich zu schlagen, sondern um so sicher zu wirken aber auch innerlich zu sein, dass man in diesen Situationen standhaft bleibt und die Leute alleine durch das ausgestrahlte Selbstbewusstsein abwehrt. Schließlich dient Kampfkunsttraining in erster Linie der Gesundheitserhaltung und soll daher auch Kämpfe verhindern. So ist zumindest die Philosofie im Traditionellen Taekwon-Do, was ich, zwar leider erst seit 3 1/2 Jahren, praktiziere, aber auf was ich auf keinen Fall mehr verzichten wollen würde, schon alleine deshalb, weil es einen Riesenspaß macht und ich schon seit meiner Kindheit an Kampfkünsten interessiert war. Ich besuche übrigens eine ganz normale Schule für das Traditonelle Taekwon-Do und keine Schule für Blinde und Sehbehinderte, was heißt, dass auch Ihr jeden Sport, jedes Hobby ausüben könnt, egal ob es für Blinde bzw. Sehbehinderte angeboten wird oder nicht. Das wichtigste ist, dass der/die Lehrer/In sich darauf einlässt. Und solche speziellen Menschen zu finden ist die Herausforderung. Aber glaubt mir, wenn ich Euch sage, dass es sie gibt und ich bin überzeugt, dass ihr eine/n Lehrer/In findet, der Euch das, was Ihr auch immer tun wollt, nicht nur lehren kann, sondern dass Ihr viele neue Freunde/Innen in dem Verein oder in der Schule findet, so wie ich auch.

Im Vergleich zu meiner Schulzeit auf einer Regelschule brauchte ich auf der Blinden- und Sehbehindertenschule kaum Hilfsmittel, da ohnehin alles für Blinde und Sehbehinderte vorbereitet wurde. Ich hatte Freunde, die auch sehbehindert waren. Es ist sogar so, dass ich meinen besten Freund in dieser Zeit kennengelernt habe. Mit anderen Worten, wäre ich nicht Sehbehindert, hätte ich meinen besten Freund wohl nie kennengelernt und auf diesen will ich sicher nicht verzichten. Überlegt mal selbst, wen Ihr alles kennengelernt habt, weil Ihr sehbehindert bzw. blind seid oder was für positive Dinge Ihr bereits durch Eure Behinderung erlebt habt, seien es spezielle Veranstaltungen oder Treffen usw.
In der Schule für Blinde und Sehbehinderte (ich nenn’s mal kurz BS-Schule) hatte ich auch im Sport viel mehr Spaß, da es z. B. kein Völkerball gab! Jeder Schüler hatte einen Computer, die Klassen hatten kaum Schüler/Innen, es lief generell lockerer als auf einer Regelschule. Ich glaube, dass unsere 10. Klasse aus zwei Schülern bestand, nämlich meinem besten Kumpel und mir. Mathe und Englisch hatten wir auch tatsächlich nur zu zweit. Die restlichen Fächer hatten wir gemeinsam mit der 9. Klasse.
Wenn man mich fragt, was für eine/n Sehbehinderte/n oder Blinde/n besser sei, dann müsste ich wohl trotz allem mit “Regelschule” antworten. Jedoch auf integrative Weise. Damit ist nicht das aktuell wohl leider noch gängige Modell gemeint, in dem Menschen mit verschiedenen Behinderungen in eine Klasse gesteckt werden, sondern ein Modell, nach welchem z. B. zwei blinde oder sehbehinderte Menschen in eine Klasse kommen und zwei Gehörlose z. B. in die Parallelklasse.
Um meine Meinung zu begründen, gebe ich einfach mal ein Beispiel.
Ich glaube die gesamte BS-Schule hatte höchstens um die 200 Schüler/Innen und ich glaube, dass die Grundschule dazugehörte.
Im Vergleich dazu fand meine erste Vorlesung in Jura mit knapp 300 Kommilitonen statt. Wäre ich nie an einer Regelschule gewesen, so wäre das einfach zahlenmäßig zuviel für mich.
Kommen wir zur ersten Vorlesung. Nun nehmen wir den normalen Studenten an, der sich nicht 30 Minuten vor Vorlesungsbeginn einen Platz sucht, sondern knapp 5 Minuten vorher, oder im Fall eines/r Sehbehinderten/In bzw. Blinden sogar 10 Minuten, um alles aufzubauen. Aber wo kann man denn Notebook und Tafelkamera aufbauen? Richtig, immer nur in der Nähe einer Steckdose und da sitzen meistens schon Studenten, die Facebo..eh, ich meine die PDF-Dateien der Vorlesung über ihr Notebook abrufen. Oder Dort sitzen all die Studenten/Innen, die gerne am Rand sitzen um frühstmöglich die Vorlesung nach Schluss verlassen zu können – selbstverständlich nur um genug Zeit zu haben sich für die nächste Vorlesung vorzubereiten! Man muss diesen Studenten/Innen natürlich erst erklären, dass man sehbehindert ist und den Platz braucht und evtl. mit den anderen Notebook-Nutzern/Innen eine Steckerleiste besorgen, damit alle ihr Notebook nutzen können.
Das muss man an einer Blinden- und Sehbehindertenschule nicht. Auf einer Regelschule ist dies zumindest auf dem Gymnasium zu Beginn eines Kurses der Fall, da einen ja nicht alle Schüler/Innen kennen und die Kurse bunt gemischt sind.
Jedoch hier ein Tipp an alle meine Leser/Innen, die das gerade erleben oder noch vor sich haben. Manchmal macht man sich einfach viel zu viele Gedanken darum, wie der andere reagiert. Letztendlich spielt es doch gar keine Rolle. Du tust ja damit nichts Schlimmes und nimmst ihm/ihr zu Unrecht den Platz weg oder was auch immer. Und glaubt mir, die meisten Menschen reagieren auf so etwas eher mit Verständnis und man kann evtl. sogar neue Freunde/Innen finden und sich sofort über Facebook hinzufügen :)! Denn Ihr würdet wohl auch nicht jemandem der Euch mitteilt, dass er sich das Bein gebrochen hat und daher am Rand einer Sitzreihe sitzen müsse, sagen, dass er was Unmögliches verlange und dass das ja wohl eine Frechheit sei, wegen eines gebrochenen Beines nur in Erwägung zu ziehen, dass sich jemand einen Platz weiter setzt!
Das war der erste Teil meines Artikels. Wenn Ihr den zweiten lesen wollt, bleibt dran. Ach ja, Ihr fragt euch sicherlich, was es mit meinem Titel auf sich hat. Nun, “Augen zu und durch” oder “Immer schön die Augen offen halten” sind zwei Sprichworte, die Euch auf dem Bildungsweg wohl begleiten werden. Jedoch empfehle ich immer hübsch die Augen offen zu halten, Chancen zu nutzen und selbstbewusst an die Sachen ranzugehen. Denn “Augen zu und durch” bedeutet ja meistens, dass man sich bei einer Sache unwohl fühlt. Ich kann mir vorstellen, dass es schwer ist, wenn man zum allerersten Mal eine/n Studenten fragt, ob man sich auf dessen Platz setzen dürfe. Da heißt es natürlich Augen zu und durch, oder? Ich denke nicht. Wenn Du dich selbst dabei unwohl fühlst, dann strahlst Du das auch aus. Aber wenn Du die Person auf eine freundliche, selbstbewusste und höfliche Art fragst, dann könnte sich daraus evtl. auch ein Gespräch und im Anschluss eine Freundschaft entwickeln. Mit anderen Worten, fühle dich bei allem, was Du tust wohl, denn das Leben ist zu kurz um bei allem unsicher zu sein und sich Gedanken darüber machen.

(geschrieben von Rasim Camoglu)

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