Rainer Gießen, Deutschlands einziger sehbehinderter Winzer

Wir arbeiten um zu Leben und leben nicht um zu arbeiten

(geschrieben von Rainer Gießen 56, selbständiger Winzer mit eigenem Weingut)

ja ein Spruch. Oder ein Motto. Bei mir ist es mal so und mal anders herum. Blind bin ich noch nicht. Nach Aussagen verschiedener Ärzte würde ich es auch nicht werden, wenn kein Unfall oder ähnliches dazwischen kommt. Ich bewundere blinde Mitmenschen wie sie mit Ihrem Leben umgehen und vor allem es meistern. Wir „Nochsehende“ klammern uns an unseren Sehrest. Braille, ich kann mir nicht vorstellen es zu erlernen. Sich im öffentlichen Raum als Blinder alleine zu bewegen, ich kann es mir ebenso nicht vorstellen. Ja aber jeder ist anders.

Die starke Kurzsichtigkeit ( bei mir zur Zeit li 0,05 und re 0,1 ) ist mir in die Wiege gelegt. Bzw. es liegt bei uns in der Familie. Mütterlicherseits wird die Kurzsichtigkeit an den Männlichen Nachwuchs vererbt. Anfangs war das Sehen bei mir nicht ganz so schlecht wie heute. Ich dürfte noch den „Mopedführerschein“ und den Autoführerschein machen, mit Auflagen und Sonderprüfungen. Alle paar Jahre musste ich ein Attest bei der Führerscheinstelle vorlegen. Und dann war 1990 Schluss mit der Automobilität. Gerade in dem Jahr als unsere 2. Tochter zur Welt kam.

Ich – wir leben auf dem Land, im Dreieck von Mainz – Kaiserslautern – Ludwigshafen. Weitab von den guten Anbindungen öffentlicher Verkehrsmitteln in der Stadt. Die Bahn fährt bei uns gar nicht und die öffentlichen Busverbindungen sind mehr als eingeschränkt. Das Taxi ist zu teuer, da kostet eine einfache Fahrt nach Worms ( nächste Stadt ca. 16 km entfernt mit kulturellen Angebot, Ärzten, Einkaufzentren ) ca. 40€. Deshalb brauche ich immer einen „Fahrer“ für notwendige Erledigungen die mich selbst betreffen. Angefangen vom Friseur, Ärzte, Schwimmbad, Sauna, Theater, Kino, Feste, Veranstaltungen, Weiterbildungsseminare etc. Die wunderschöne, Toskana ähnliche Landschaft bei uns, mit sanften Hügeln, bewachsen mit Weinbergen, Feldern und Windrädern sind toll aber die Einschränkungen für mich in meiner Mobilität sind massiv. Man ist sozusagen nicht mehr Selbständig sondern abhängig. Fahrradfahren mag ich nicht mehr auf mir unbekannten Strecken, so kauften wir uns ein E-tandem um unsere Freizeit zu genießen.

Den Beruf Winzer – Weinbautechniker bekam ich ebenso in die Wiege gelegt. Nach dem Abschluss der Handelsschule bewarb ich mich an verschiedenen Stellen. Hatte aber nicht so wirkliche Chancen, den ich stamme aus der Zeit der Geburtenstarken Jahrgänge um 1960. Also Bewerber ohne Ende, warum sollen die Betriebe einen nehmen der Einschränkungen mitbringt. Auch waren damals die gesetzlichen Vorschriften anders als heute und ich saß mit meiner damaligen Einschränkung zwischen den Stühlen: nicht voll sehen – nicht behindert.

So wurde ich dann auch von zu Hause überredet den Beruf Winzer zu ergreifen und den elterlichen Betrieb fortzuführen. Gesagt getan, Winzerlehre, hineinschnuppern in andere Betriebe durch Reisen in andere Weinbauländer, Wirtschafter Ausbildung und dann noch den Weinbautechniker absolviert. So bin ich seit 1978 als selbständiger Winzer mit eigenem Weingut.

Das Arbeitsbild eines Winzers ist sehr vielseitig. Vom Weinberg, hier muss der Rebstock ( ich habe ca. 45000 davon, verteilt auf ca. 9 ha Fläche, die sich auf ca. 10 km Umkreis erstrecken ) gepflegt werden. Im Winter wird der Stock beschnitten, im Frühjahr angebunden, Rebholz schreddern, neue Weinberge werden gepflanzt. D.h. mehrere hundert oder gar tausend Pflanzen kommen in die Erde. Der Unterstützungsrahmen aus Pfählen ( alle 4. Stock kommt 1 Pfahl ) ca. 70 cm tief in die Erde, Drähte ( mehrere 100 m Länge ) werden gespannt. Alles muss verankert werden. Mehrmals im Jahr Grasmähen, sowie Bodenbearbeitung während des Jahres. Pflanzennährstoff ausbringen. Unerwünschte Triebe am Stamm und auf der Bogrebe entfernen. Die jungen Triebe mehrmals hochstecken und festbinden, damit die vom Wind nicht abgebrochen werden. Die langen Triebe per Maschine einkürzen, 2 – 3-mal im Jahr. Überzählige Trauben entfernen um die Qualität zu steigern. Ständiges beobachten des Wuchses (nach dem Motto: das Auge des Herren pflegt den Weinberg). Die reifenden Trauben begutachten, den Erntetermin entscheiden. Die Traubenernte wird maschinell eingebracht.

Zu Hause die Trauben verarbeiten, den Most bearbeiten, ebenso die Gärung überwachen, Reinigungsarbeiten erledigen. Den Wein ausbauen, filtrieren, abschmecken. Abfüllungen vorbereiten. Immer wieder Geschmackskontrolle. Flaschen sortieren, etikettieren, verpacken, kommissionieren, Etiketten für die Druckerei vorbereiten. Bedarfsmaterial planen und bestellen. Angebote einholen.

Diverse Schreibtischarbeiten, wie Formulare ausfüllen, Kellerbuchführung. Kundenanschreiben anfertigen, Mails bearbeiten. Bankgeschäfte, Rechnungswesen ja alles was im Büro so anfällt. Mit Behörden, Lieferanten und Kunden verhandeln. Ausliefertouren vorbereiten und planen. Kunden betreuen, beraten, verkaufen, verpacken, Weinproben zu Hause und Außerhalb durchführen. Weinwanderungen – Exkursionen mit Probe im Weinberg für Kunden erledigen.

Reparaturen – Wartungsarbeiten im Weinberg sowie an Keller-, Weinbergmaschinen durchführen soweit ich das erkennen kann. Arbeitsassistenzen anleiten, beaufsichtigen.

Seit 1984 bin ich verheiratet, 2 Töchter, 2 Enkelkinder. Zusammen mit meiner Frau bewirtschaften wir heute in Rheinhessen und Pfalz Weinberge mit den unterschiedlichsten Reben und unterschiedlichsten Weinstilen. Nachzulesen unter www.weingut-giessen.de . Wir verkaufen unsere Weine – Sekte fast ausschließlich in ganz Deutschland an Endverbraucher. Viel Herzblut und Engagement steckt in unserem Tun, Weinen – Sekten. Viel mehr als „Sehende“ erahnen denn die tägliche Arbeit fällt einem nicht in den Schoß. Es wird von uns „Sehbehinderten“ + Blinden ebenso viel verlangt wie von „Sehenden“ obwohl wir das nicht leisten können, obwohl wir es wollten.

Über unsere berufsständische Sozialversicherung, die Pflicht ist und ich nicht wechseln kann
( Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie Berufsgenossenschaft ) bin ich enttäuscht. Hierüber bekommt man keinerlei Unterstützung bzgl. Hilfsmittel für uns Behinderte was den Beruf anbetrifft, auf dem privaten Sektor ist es sehr schwierig. Man ist auf das Integrationsamt angewiesen und hier muss man dicke Bretter bohren und vieeeel Geduld haben. Leider können sich die Sachbearbeiter nicht in meine Belange reindenken, denn ich habe halt ein anderes Berufsbild als Angestellte und Arbeiter. Das Integrationsamt versuchte erneut unsere Sozialversicherung in die Leistungspflicht zu bringen bzgl. Hilfsmittel für meinen Arbeitsplatz. Die haben es aber abgelehnt und Recht bekommen. Kein Schreibtischjob hm und nun. Wir wurden uns einig dass ich eine gewisse Geldsumme bekomme die ich dann für meine Arbeitsassistenten einsetzen kann. Jedes halbe Jahr muss ich die Geldsumme nachweisen. Das Integrationsamt versucht regelmäßig die Zuwendungen um 10 % für meine Assistenzen zu kürzen. Leider hatte ich mit Einsprüchen selten Erfolg. Hallo wird meine Behinderung weniger? Ein Gerichtsverfahren vor dem Verwaltungsgericht musste ich wegen Formfehler bei der Erstantragsstellung abbrechen. Leider fehlte mir die anwaltliche Beratung vor dem Erstantrag.

Nach eigenen Recherchen bei meinem Berufsverband bin ich der einzige selbstständige Winzer in Deutschland mit einer derartigen Sehbehinderung.

Es staut sich schon ab und an Frust auf. Der bei mir dann zuweilen lautstark rauskommt, dann geht’s mir aber meist wieder besser. Nur durch die mehr als tatkräftige Unterstützung meiner Frau können wir den Weinbaubetrieb ohne feste Arbeitskräfte führen. Wir müssen uns allerdings doch eine Menge Aushilfskräfte einkaufen, denn ich kann nicht alles arbeiten. Wenn es um Sauberkeit geht, putze ich doppelt und lasse noch mal kontrollieren, denn Wein ist eine verderbliche Ware.

Die Traktorarbeit im Weinberg ( die ich vermisse ) erledigt. wie so vieles was mit „Fahren“ und „Besorgen“ zu tun hat, meine Frau. Einige Weinbergsarbeiten haben wir vergeben, allerdings unter unserer Kontrolle, da ich diese einfach wegen Ihrer Schwere nicht erledigen oder erkennen kann. Wobei ich doch ab und an mit dem Traktor im Weinberg Arbeiten erledige, um Geräte einzustellen mit denen meine Frau dann den Rest erledigt. Öfter klingelt das Telefon und: „Das und jenes geht nicht, was muss ich tun?“ Ja wenn man es noch nie selbst gemacht hat, kann man keine Ratschläge und Tipps geben. So bin ich gezwungen diverse Sachen einfach anzupacken und zu probieren.

Leider stößt man bei seinen Mitmenschen immer wieder auf Unverständnis. Es kommen Aussagen wie: lass dich operieren, man kann doch alles machen, kauf dir ne bessere Brille und und und. Manchmal lasse ich mich auf eine Diskussion ein, um Aufzuklären, andermal reagiere ich gar nicht. Aber es tut doch hin und wieder weh.

Am liebsten arbeite ich beim Weinausbau im Keller. Man braucht aber hier Geduld, Intuition, Spontanität, Kreativität und Entscheidungsfreude auch Mut zu Risiko darf nicht fehlen. Die jährlichen Erfolge bei der Weinprämierung bestätigen dann mein werken.

Die Kundenbetreuung, wie Wein verkaufen, Beratung, Weinsafaris im Weinberg und Keller machen mir viel Spaß. Man lernt eine Menge Menschen kennen. Kann sich, seinen Beruf, seinen Wein erklären und stößt oft auf offene Ohren, Wissbegieren und Verständnis.

Was mich anätzt ist die Büroarbeit, viele sinnfreie Tätigkeiten müssen getan werden. Formulare, Tabellen usw. viele davon nicht wirklich notwendig. Aber die beteiligten Behörden kennen kein Pardon wehe es fehlt ein Strich, der Termin ist verpasst. Jeder schiebt die Verantwortung am liebsten weiter und verschanzt sich hinter Paragraphen. Grad für uns Sehbehinderten fällt es schwer die Formulare auszufüllen. Ich bekomme Rückenprobleme davon, da ich in einer sehr ungünstigen Arbeitshaltung diese Tätigkeiten erledigen muss.

Die üblichen Hilfsmittel, wie Screenreader, Kamera und was es so alles noch gibt, nutze ich selten. Denn seit ich Windows 7 habe kann ich fast alles zoomen wie ich es brauche. Die Kamera nutze ich ab und an wenn es wirklich sehr klein gedruckt ist. Ansonsten habe ich einen großen Bildschirm, passe die Programme füllen an. Aber nicht alle machen das mit. Ich habe für meinen Betrieb ein spezielles Weinbuchführungs- und Rechnungsprogramm dessen Hersteller klein ist. Er sieht es aber nicht ein auf meine Wünsche einzugehen, obwohl ich Ihn schon mehrmals persönlich Auge in Auge darum gebeten habe. Er will einfach nicht. Schade! Oder frustrierend. Wechseln wird teuer und kostet viel Mühe. Für den Keller und Hof habe ich keine Hilfsmittel. Nur menschliche Hilfe in Form von meiner Familie und Arbeitsassistenzen. Diese müssen in meinem Beisein Nacharbeiten oder mit mir die Arbeit erledigen.

Im Weinberg bin ich dabei, soweit es geht. Wenn es sich um das Erkennen von Krankheiten geht, muss die Arbeitsassistenz es mir erklären, oder ich sage wie es aussieht, oder aussehen könnte. Ja alles nicht so einfach, aber jeder hat in seinem Beruf sein Handicap und es ist jedesmal anders.

Wer Lust hat und Neugierig ist, darf mich nach Voranmeldung unter 06243 – 384 oder per mail info@weingut-giessen.de gerne in meinem Reich zu einer Weinsafari durch die Weinberge und Weinkeller sowie zu einem ausführlichen Weintasting besuchen. Ich freue mich auf zahlreiche Besucher.

Was mich reizt und interessieren würde wäre, meine Weine auch unseren Sehbehinderten und Blinden näher zu bringen. Leider fehlen mir die Kenntnisse und Möglichkeiten Braille und QR Codes für die Flaschen zu erstellen. Wir wollen versuchen auch unsere Homepage Barrierefrei zu gestalten.

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