Ein ganz normaler Tag

Man hat sich nicht die Mühe gemacht, mir einen Namen zu geben, aber ich habe die wichtigste Aufgabe in dieser Geschichte: Ich muss sie erzählen, denn die Hauptperson, Simon, wird es selbst nicht tun, weil sie die Geschichte nicht für erzählenswert hält. Was, bitte, ist an einem ganz normalen Tag interessant? Und würde Simon sie trotzdem erzählen, würde er Details vergessen, da sie für ihn so alltäglich sind. Das fängt schon morgens beim Aufstehen an: Obwohl es noch stockdunkel ist, macht er kein Licht. Er braucht es nicht. Er ist blind. Dennoch tastet er sich nicht unsicher an der Wand entlang, sondern geht zielstrebig ins Bad, tastet nur, um sich zu vergewissern, kurz mal nach einem Stuhl oder der Türklinke. Die Wohnung kennt er in- und auswendig. Ferner muss er sich nicht auf den Tastsinn allein verlassen, sondern profitiert daneben von seinem trainierten Gehör, mit dem er, wie viele andere Blinde, auch Schallveränderungen verursacht durch höhere Hindernisse wahrnehmen kann, die gar kein Geräusch machen. So ist er z. B. in der Lage, Wände zu hören. Den weißen Stock braucht er in seiner Wohnung nicht. Er wohnt alleine und so gibt es niemanden, der ihm Dinge in den Weg legt oder heimlich die Möbel umstellt. Gut, höchstens seine Putzfrau, aber die ist eher auf das Abbrechen von Wasserhähnen oder das Herausreißen von Telefonkabeln spezialisiert. Apropos Putzfrau: Die hat er nicht etwa, weil Blinde nicht selbst putzen könnten, sondern aus demselben Grund, aus dem auch so mancher Sehende eine Putzfrau beschäftigt: Er ist faul und hat das Geld.

Zum Frühstück gibt es zwei abgepackte Schokobrötchen aus dem Supermarkt, einfach weil es schneller geht. Er wäre durchaus in der Lage, sich ein Brot oder Brötchen zu schmieren. Auch trinkt er nicht deshalb Senseo-Kaffee, weil er keine herkömmliche Kaffeemaschine bedienen könnte. Sofern solche Dinge (aber auch das schon erwähnte Putzen oder Kochen, Waschen etc.) einem Blinden nicht z. B. von den Eltern gezeigt werden, gibt es hierfür spezielle LPF-Lehrer, wobei LPF für lebenspraktische Fertigkeiten steht.

Nach dem Frühstück geht er noch mal ins Bad, wo er sich die Zähne putzt, duscht und sich rasiert, Letzteres natürlich, ohne dabei in den Spiegel zu schauen. Dann zieht er sich die Klamotten an, die er am Abend zuvor bereitgelegt hat. Dass diese farblich zusammen passen, mag den einen oder anderen verwundern, ist aber keine Hexerei: Damit er an beiden Füßen gleichfarbige Socken trägt, werden in seiner Sockenschublade gleiche Paare mit Klammern zusammengehalten. Außerdem besitzt er ein Farberkennungsgerät. Das hält man einfach an ein Kleidungsstück, drückt auf einen Knopf und schon wird die Farbe angesagt. Simons Exemplar kennt nicht so viele Farben wie teurere Geräte, aber zur groben Unterscheidung reicht es. Er hat als Geburtsblinder ohnehin nie Farben gesehen, sondern lediglich von seiner Mutter gelernt, welche Kombinationen gar nicht gehen, wobei das natürlich subjektiv ist. Manchmal stört es ihn schon, dass er, was Kleidung betrifft, nicht wirklich einen eigenen Geschmack haben kann.

Wenige Minuten später steht er in Schuhen und Jacke da und ist bereit, zur Arbeit zu gehen. Er schaltet nur noch schnell sein Handy ein. Es ist noch eins mit richtigen Tasten, auf dem die Software eines Spezialherstellers installiert ist, durch die das Gerät sprechen kann, so dass er in der Lage ist, sich in den Menüs zurechtzufinden und SMS zu lesen. Irgendwann wird er sich auch ein Smartphone mit Touchscreen anschaffen (müssen), wie sie mittlerweile in Mode sind. Diese sind durch sprechende Spezialsoftware ebenfalls von Blinden bedienbar und man kann über Apple sagen, was man will, aber im iPhone ist so eine Software sogar schon standardmäßig enthalten. VoiceOver, so der Name der Software, muss lediglich aktiviert werden.

Auch auf seinem Arbeitsweg, der ihm von einem Orientierungs- und Mobilitätslehrer beigebracht worden ist, geht er flott und sicher, allerdings nun mit weißem Stock, den er vor sich her pendelt. Der Stock ist ihm dabei immer einen Schritt voraus: Wenn Simon den rechten Fuß nach vorne setzt, ist der Stock an der linken Seite und umgekehrt. So bekommt er rechtzeitig mit, wenn etwas im Weg steht, wie jetzt gerade die Mülltonne, über die er daher nicht fällt. Er benutzt den Stock aber nicht nur, um vor Hindernissen gewarnt zu werden, sondern verfolgt mit ihm auch so genannte Leitlinien. So stößt er z. B. mit dem Stock ganz bewusst immer wieder gegen eine steinerne Begrünungsbegrenzung, weil diese ihn geradewegs zu einer Straße führt, die er überqueren muss (wobei er diese natürlich auch hört, wenn darauf gerade Autos fahren). – Wie bitte? – Warum er keinen Führhund hat? – Ganz einfach: Weil er keine Lust hat, sich um ein Tier zu kümmern. Außerdem kann die Zusammenarbeit zwischen Hund und Mensch nur funktionieren, wenn letzterer dem Tier hundertprozentig vertraut. Dieses Vertrauen hätte Simon nicht. Trotz aller Intelligenz und spezieller Ausbildung: Der Hund ist und bleibt ein Tier. Einmal hat ihm eine Bekannte erzählt: “Mein Hund muss zur Nachschulung. Der läuft im Dienst immer anderen Hunden hinterher.” Das trägt nicht gerade zur Vertrauensförderung bei.

In seinem Büro im Rathaus angekommen, wo er nicht etwa als Telefonist (ein vermeitnlich typischer Blindenberuf), sondern als Verwaltungsfachangestellter in der Steuerabteilung arbeitet, setzt Simon sofort einen Kopfhörer auf. Das macht er jedoch nicht, weil er bei der Arbeit Musik hören möchte (um Gottes Willen! Er könnte sich dann gar nicht konzentrieren!), sondern weil auch auf seinem PC, genau wie auf dem Handy, eine Spezialsoftware läuft, die ihm den Bildschirminhalt vorliest. Das kann nicht über Lautsprecher erfolgen, weil er dann die Kollegin, mit der er das Büro teilt, stören würde. Daher der Kopfhörer. Das, was auf dem Bildschirm zu sehen ist, wird aber nicht nur in Sprache umgewandelt, sondern auch auf einem speziellen Gerät, der Braillezeile, in Blindenschrift ausgegeben, das der Tastatur vorgelagert ist. Die Tastatur selbst ist jedoch eine ganz normale. Die meisten Blinden lernen bereits in der Schule, mit zehn Fingern zu schreiben, und das ist nicht bewundernswert, weil auch sehende Schreibkräfte angehalten werden, blind zu tippen.
Da kommt sein Chef und gibt ihm den Brief eines Bürgers. Auch das stellt für Simon kein Problem dar. Er hat einen Scanner auf dem Tisch stehen. Da legt er den Brief rein und kurze Zeit später hat er dank der auf dem Computer installierten OCR-Software den Wortlaut unter seinen Fingern und im Kopfhörer.

In der Mittagspause geht er, wie jeden Tag, in das Café des benachbarten Altenheims, wo er einen Stammplatz hat, den er leicht alleine finden kann. Heute gibt es Schweinebraten mit Kohlrabi und Kartoffeln, wobei man ihm das Fleisch geschnitten hat. Das müsste man nicht unbedingt tun, aber so bleibt es ihm erspart, dass er beim Schneiden eventuell etwas vom Teller schiebt. Nicht erspart bleibt ihm hingegen die ältere Dame, die neben ihm sitzt: “Geht es?”, fragt sie mehrmals, während er isst, und kommentiert es von Zeit zu Zeit begeistert, wenn er ein Stück Fleisch aufspießt: “Erwischt!” Das nervt, aber er beschwert sich nicht. Sie meint es ja gut. Außerdem ist es schon ein Fortschritt, dass sie ihm nicht bereits wenige Sekunden, nachdem er zu essen angefangen hat, das Besteck entreißt, sondern ihm erst dann zur Hand geht, wenn der Teller so leer ist, dass es für ihn wirklich schwierig ist, etwas auf die Gabel zu bekommen.

Endlich Feierabend! Auf dem Heimweg geht er noch bei der Bäckerei vorbei, die im REWE untergebracht ist. Es ist viel los und er weiß nicht genau, ob er sich ordnungsgemäß in der Schlange angestellt hat und vorrückt. Schließlich fragt eine weibliche Stimme: “Wer war jetzt dran?”
“Äh – ich vielleicht?” Ja, er ist dran und so gibt er schnell seine Bestellung auf. Jetzt gilt es, die Stimme der Verkäuferin im Ohr zu behalten, die für ihn zuständig ist. Das ist heute aber mal wieder gar nicht so einfach, denn die Dame, die den Kunden neben ihm bedient, hat eine ganz ähnliche Stimme und so ist er sich nicht sicher, ob er gemeint ist, als gefragt wird: “Darf es sonst noch was sein?” Nein, es darf nichts mehr sein, daher geht es nun ans Bezahlen. Seine Münzen hat er in einer Box sortiert, wo es für jede Münze eine Vertiefung gibt. Das wäre aber nicht unbedingt nötig, denn die Euromünzen sind auf Grund ihrer Größe und der Beschaffenheit des Randes eindeutig voneinander zu unterscheiden. Bei Scheinen tut sich Simon dagegen schwer, weswegen er sie in die zahlreichen Kartenfächer seines Portemonnaies einsortiert: In das erste linke Fach kommen die Fünfer, in das zweite die Zehner, in das dritte die Zwanziger und in das vierte die Fünfziger. Beim Einsortieren hilft ihm ein viereckiger Geldscheinprüfer aus Plastik, in den die Ziffern 5, 10, 20, 50, 100 und 200 in bestimmter Anordnung in Blindenschrift eingestanzt sind. Klemmt man jetzt z. B. eine 20-Euro-Note in den Prüfer ein und klappt sie um, so verdeckt sie durch ihre spezifische Größe die Ziffern 5 und 10, so dass die erste fühlbare Ziffer die 20 ist.

Im REWE muss er heute nicht einkaufen. Das macht er in der Regel samstags, wobei er sich immer von einer im Laden angestellten Person helfen lässt. Als Sehender würde er es lieben, durch das Geschäft zu schlendern und sich spontan für Produkte, die er sieht, zu entscheiden. Da er das als Blinder nicht kann und das Personal auch nicht über Gebühr beanspruchen möchte, kommt er gut vorbereitet mit einem am PC getippten und in Normalschrift ausgedruckten Einkaufszettel ins Geschäft, der dann schnell abgearbeitet werden kann, auf dem aber nur Produkte stehen, die er schon kennt und von denen er in der Regel auch weiß, dass sie zum REWE-Sortiment gehören. Dementsprechend wenig abwechslungsreich sind seine wöchentlichen Einkäufe. Übrigens: Als Blinder ohne fremde Hilfe einzukaufen, könnte er sich nicht vorstellen. Zwar gibt es schon spezielle Barcode-Leser und entsprechende Apps, aber selbst wenn er wüsste, wo im Laden was steht und auch nicht öfter umgeräumt würde, wäre es einfach zu mühsam, sich so die gewünschten Produkte zusammenzusuchen.

Zu Hause setzt er sich erst mal an den Rechner, um u. a. Mails zu checken und mit seiner Freundin zu skypen, mit der er eine Fernbeziehung führt. Nächstes Wochenende fährt er sie mit dem Zug mal wieder besuchen. Da er den Weg zum Bahnhof nicht kennt, gönnt er sich ein Taxi dorthin. Am Zielbahnhof wird ihn dann ein Bahnmitarbeiter zur U-Bahn bringen. Diese Hilfe wird Simon im Vorfeld über die Mobilitätsservice-Zentrale der Deutschen Bahn anfordern. Wie die U-Bahn-Station heißt, an der seine Freundin ihn erwartet, weiß er natürlich und auch, dass es der dritte Halt ist für den Fall, dass die Durchsagen mal wieder nicht zu verstehen sind.

Nach dem Abendessen (es gibt zwei Scheiben frisches Brot vom Bäcker mit Cervelatwurst, dazu eine Tasse Ostfriesentee im Beutel) sieht er fern. – Ja, Sie haben richtig gelesen: Simon sieht fern und nennt das auch so (Blinde benutzen ganz selbstverständlich optische Begriffe, die im allgemeinen Sprachgebrauch verankert sind, und haben auch nichts dagegen, wenn Sehende es in ihrer Gegenwart tun). Er kann zwar das Fernsehbild nicht sehen, aber das Programm besteht ja auch aus Ton und den kann er hören. Außerdem ist der Tatort, den er sich gerade ansieht, ein Hörfilm. Das heißt, es gibt auf einem zweiten Tonkanal, wo sonst z. B. schon mal der Originalton eines ausländischen Films übertragen wird, Audiodeskription, also Bildbeschreibungen, die in den Dialogpausen gesprochen werden.

Um kurz nach zehn liegt Simon im Bett und es endet ein ganz normaler Tag im Leben der blinden Hauptperson dieser Geschichte.
(geschrieben von Simon Kuhlmann)

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